Aufbruch.
„Schau, Annie! Die Freiheitsstatue, wir haben es geschafft!“ Annie wischt sich verstohlen eine Freudenträne aus den Augen.
Sie will nicht, dass ihre Brüder sie weinen sehen. Aber Phillip hat recht. Sie haben es geschafft.
Einige Tage vor Weihnachten bestieg das Trio in Queenstown die SS Nevada, um in das grösste Abenteuer ihres Lebens aufzubrechen.
Die Überfahrt quer über den Atlantik von Irland in die Vereinigten Staaten von Amerika sollte zwölf Tage dauern. Tage der Ungewissheit. Tage der Kälte. Tage des Hungers.
Doch jetzt wird bestimmt alles besser. Wie die Mutter in ihren Briefen geschrieben hatte. Klar die Wohnsituation der Familie könnte besser sein. Aber sobald Vater wieder Arbeit finden wird, kommt alles gut.
Vater gibt sich Mühe in den Docks einen langfristigen Job zu finden. Aber es ergeht ihm wie vielen Anderen auch. Arbeiter werden solange gebraucht wie Schiffe mit ihren Gütern im Hafen zu liegen. Sobald die Ladung gelöscht ist, fällt auch die Arbeit weg.
„Schau, Annie. Ein kleineres Boot steuert auf uns zu!“ Annie Moore wird jäh aus ihren Gedanken gerissen. Anthony ihr jüngster Bruder zeigt begeistert auf ein viel kleineres Schiff, welches auf Backbordseite sich daran macht an der SS Nevada anzudocken.
„Komm. Schnell Annie. Schwing die Hufe. Wir wollen als erstes von Board!“ Philip verleiht den Worten seines Bruders physisch Nachdruck, indem er Annie an der Hand nimmt und seine Schwester hinter sich herzieht.
Die Geschwister wollten nur noch runter von diesem Schiff. „Ein Scheiss Sargschiff werdet ihr besteigen. Jämmerlich ersaufen. Wie die Ratten. Oder von der Cholera dahingerafft!“ Zum Glück hatte Paddy der Cousin nicht recht.
Alle drei hatten sie die zwölf Tage dauernde Tortur überstanden. Lebendig und unversehrt. Trotz wenig Essen und sauberem Wasser.
Tatsächlich wurden die Schiffe „Coffin Ships“ genannt. Sargschiffe. Schon nur der Gedanke daran liess Annie erschaudern. Wie viel schlimmer muss es bloss vielen ihrer Landsleute vor ihnen ergangen sein?
Dahingerafft auf dem Weg in die Freiheit. Achtlos über Board geworfen. Im Atlantik ein nasses Grab findend. Annie nimmt einen tiefen Atemzug. Die kalte New Yorker Luft füllten ihre Lungen.
„Pass auf Annie, der Koffer!“ Die Warnung ihres Bruders kommt gerade noch rechtzeitig. Trotz ihrer doch eher stattlichen Figur vermag Annie dem herrenlosen Koffer elegant auszuweichen. Ohne hinzufallen. Annie bleibt stehen und starrt den mit braunem Leder überzogenen Koffer an.
Wer wohl derart vertrottelt sein kann einfach seinen Koffer mitten in den Weg zu stellen? Schon schnappt eine riesige Pranke nach dem Griff des abgewetzten Koffers.
„Oh, da ist er ja. Das ist meiner.“ Die reib eiserne Stimme gehört einem Mann wohl so Mitte vierzig. Natürlich ist er schwer zu schätzen. Sein verlebtes Gesicht versteckt sich unter dem dichtesten Bart, welchen Annie je gesehen hat.
Zweifelsohne ist dieser Mann viel herumgekommen. Das sieht Annie in seinen Augen. Diese blitzen Grün unterhalb seiner buschigen Augenbrauen hervor. Voller Weisheit und Güte. Aber auch mit einem gewissen Schalk. Dieser blitzt nun auf, als der Mann zu Annie spricht.
Ankunft.
„Mädchen, was stehst du hier rum starrst mich an? Ich bin weder der Weihnachtsmann noch Rudolph das Leitrentier mit der roten Nase. Die hab ich vom Saufen. Mach vorwärts und folge deinen Brüdern. Wir wollen von diesem Scheiss-Kahn runter. Amerika erwartet uns!“
„Ja, natürlich. Sir. Entschuldigung…“ stottert Annie. „Kein Ding, Kleine. Du musst dich nicht entschuldigen. Aber komm jetzt. Heilige Scheisse. Wir wollen als erste von Bord.“ Sanft nimmt der rothaarige Riese Annies Ellenbogen in seine Hand und stösst sie leicht vorwärts.
Der Dialekt. Die Ausdrücke. Die roten Haare. Es gab keinen Zweifel. Der Mann ist wie sie Ire.
Sie verliert ihn auf dem kleineren Boot, welches die Passagiere nach Ellis Island bringt, aus den Augen. Aber schon beim Verlassen des Schiffs steht er wieder hinter den Geschwistern. „Ich bin Brian,“ sagt der Mann. Er muss mindestens zwei Meter gross sein. Für seine Jacke aus typischem Donegal Tweed musste eine Menge Stoff verwendet werden, denkt sich Annie.
Während der Fahrt macht ein Gerücht unter den Neuankömmlingen die Runde. Wer als Erstes registriert wird, im neuen Immigranten Zentrum auf Ellis Island der soll ein Geschenk erhalten. Eines aus Gold. Da sind sich die Leute sicher.
Annie macht sich darüber keine Gedanken. Warum sollte ausgerechnet ein einfaches Mädchen aus Cork als erste Auserkoren werden?
„Wie heisst du, Kleine“ will der Mann, der sich als Brian vorstellt wissen. „Annie. Annie Moore“.
„Ok, Annie Moore. Dann wollen wir mal zusehen, dass du als Erste dieses Schiff verlässt. Kommt. Folgt mir!“ Anthony und Philip gehorchen sofort. Breschen in die Lücke in der Menge, welche Brain mit seinem voluminösen Körper bahnt.
Annie ziehen sie mit.
„Willkommen in den Vereinigten Staaten von Amerika, Leute“. Ein kleiner Mann in offizieller Kleidung begrüsst die Neuankömmlinge. „Wir suchen die erste Person, welche in diesem neu geschaffenen Zentrum für Immigranten registriert wird.“
„Das bin ich,“ ruft gut gekleideter Mann im schwarzen Anzug. „Nein, ganz sicher nicht du“, poltert Brian. „Hier. Annie. Sie wird heute 15 Jahre alt. Ihr soll die Ehre zuteil werden.“
Annie schaut verwundert zu Brian hoch. “Aber ich bin doch schon…“ beginnt sie verwirrt den Rest des Satzes verschluckend.
Wiedervereint.
„Annie. Heute bist du für Essen zuständig.“ Den harschen Befehlston im Cork Dialekt ist sich Annie nicht mehr gewohnt. Gut. Heute wird sie Essen kochen für die Grossfamilie.
Seit einigen Wochen sind sie wiedervereint. Ihr kleines Bündel mit persönlichen Sachen liegt in einer Ecke. Es auszupacken hat keinen Sinn. Wo soll sie ihre privaten Dinge auch hintun?
Im zu kleinen Apartment ist schlicht kein Platz. Es verfügt über ein Bett. Geschlafen wird in Schichten. Da schlicht nicht alle Platz haben.
Auf ihren Vater ist sie immer noch wütend. Klar. Er gibt sich Mühe einen geregelten Job zu finden. Doch er hat sich nicht geändert in den Jahren. Der Alkohol ist weiterhin sein grösster Feind. „The Booze“ wie die Trinkerei in Irland genannt wird.
Schon am Tag ihrer Ankunft verschacherte er Annie‘s Goldmünze. Den Erlös investierte er in den Bars unterhalb der Brooklyn Bridge. Wiedervereinigung der Familie wie er es nannte.
Wie kann man nur so töricht sein?
Dämonen.
Schon in Irland hatte Vater dieses Problem. Er tingelte von einem Job zum Anderen. Nur um zwischendurch wieder arbeitslos zu sein. Oft war der Alkohol ein Grund.
So sahen Mutter und Vater bessere Chance in Amerika. Alles würde besser dort. Zusammen mit dem älteren Bruder und ihrer Schwester brachen sie auf nach New York. Vier Jahre bevor Annie, Anthony und Philip sich auf die Überfahrt machen.
Annie schwelgte gerne in der Erinnerung an die Zeit in Cork bei Tante Aileen. Das kleine Haus lag nahe der Kirche. Annie liebte den Klang der Glocken von Shandon zu hören. Oder Sonntags in die St. Annes Church zu gehen.
Zur Kirche gehen war eine ihrer wenigen Freuden. Daneben erwartete sie jeweils sehnsüchtig die Briefe ihrer Mutter. Annie war immer wieder sehr gespannt wie es der Familie erging.
Wie sich die Brüder in der Schule machten. Ob die grössere Schwester schon Freunde gefunden hatte. Wie es wohl der Mutter erging im neuen Land, ohne drei ihrer Kinder.
Eine lange Zeit lang blieben die sonst regelmässigen Briefe aus. Annie und die Brüder machten sich grosse Sorgen. Was war bloss passiert? Endlich wieder ein Brief. Der Postbote übergab ihn mit den Worten: „Die Adresse war aber schwer zu entziffern! For God sake.“ Der Brief war von..
.. ihrem Vater.
Tante Aileen und die Geschwister befürchteten schon das Schlimmste. Der noch verschlossene Brief lag mitten auf dem Küchentisch. Sauber mittig ausgerichtet. Alle standen um den massiven Tisch aus Eichenholz. Keiner wagte sich zu bewegen.
So war es Aileen, welche die Verantwortung übernahm. Mit zittrigen Händen den Brief öffnete und mit vorlesen begann:
„Liebe Annie, lieber Anthony und Philip
Liebe Aileen
Leider muss ich euch mitteilen, dass Mutter für eine Zeitlang in eine Klinik gebracht werden musste. Ihr psychischer Zustand war derart schlecht. Sie ist dort in guten Händen und es geht ihr bereits besser. Macht euch keine Sorgen. Wir hoffen eure Mutter, meine Julia bald wieder zu Hause zu haben.“
Pop.
Über fünf Jahre ist es her, dass Mutter aus der Klinik entlassen wurde. Das Leben spielte ihr hart mit. Einen unsteten Trinker zum Mann zu haben tat ihrer labilen physischen Verfassung nicht gerade gut.
So wurden beide Elternteile regelmässig von ihren Dämonen heimgesucht.
Annie wollte stärker sein als ihre Mutter. Und Annie wollte einen Mann, der nicht trinkt. Ob ihr Wunsch ausgerechnet in den Slums von New York wahr werden wird? Ein entkommen aus der Armut gibt es nicht.
Es ist Brian, welcher wieder einmal die Lage Moores verbessert. Seit ihrer ersten Begegnung auf der SS Nevada ist der kräftige Mann aus der Grafschaft Roscommon ein Freund der Familie. Auch heute soll er wieder der Retter in der Not sein.
Wie in den Slums üblich war im Mai jeweils grosser Wohnungswechsel. Die Besitzer pflegten in diesem Monat die Mieter, welche nicht oder unregelmässig bezahlten, aus dem Haus zu werfen.
Auch die Moores sind mit der Zahlung im Rückstand. Sie wissen, welches Schicksal ihnen blühen wird. Doch wohin?
„Zwei Strassen weiter ist eine kleine Bäckerei. Dort gegenüber ist etwas frei. Grösser als eure Behausung und erst noch günstiger. Zudem findet Annie ja in der Bäckerei vielleicht eine Arbeit?“ Brian ist voller Zuversicht und seine Augen funkeln unter den buschigen Augenbrauen hervor.
Nur zu gerne würde Annie in einer Bäckerei arbeiten.
Ein riesiges blitzblank geputztes Schaufenster. Darin ausgelegt eine Vielzahl an lustig geformtem Gepäck. Annie hat so etwas noch nie gesehen. Ob sie mal kosten darf? Da ein Schatten…
Erschrocken schaut Annie auf und blickt in die strahlend blauesten Augen, welche sie jemals gesehen hat. Der Mann lächelt schüchtern und winkt sie in den Laden.
„Hi, ich bin Joseph Augustus. Aber Freunde nennen mich nur „Pop“. Meinem Vater gehört die Bäckerei und er stellt dieses süsse Gebäck her. Hat er erfunden. Er nennt sie „Makaronen“.“
Heirat.
Er arbeitet im Fulton Fish Markt. Er ist ein anständiger Mann mit feinem Humor. Er sollte diesen bis an sein Lebensende behalten. Trotz all den Schicksalschlägen.
1895 heiratet das Paar in der St. James Kirche. Der schönste Ort den Annie in den Staaten je zu sehen bekommen sollte.
Bald sind Kinder da. Die Freude weicht schnell grosser Trauer. Zu hart sind die Bedingungen in den New Yorker Slums. Von den insgesamt elf Kindern, welche Annie gebärt, sterben sechs noch im Kleinkindesalter.
„Annie! Annie! Wach auf, was ist los mit dir?!“ Pop kniet neben seiner Frau auf dem Boden. Hält ihre Hand und rüttelt verzweifelt am massigen Körper.
Ein grosser Schatten fällt auf die weisse Wand gegenüber der Tür zum Schlafraum. „Es hat keinen Sinn, Pop. Es tut mir leid. Annie ist tot.“ Mit bestimmter Stimme spricht der bald achtzigjährige aus, was Pop nicht wahrhaben will.
„Annie, du bist wieder die Erste von uns, welche von Bord geht“. Brian kniet sich neben Annies Mann und legt ihm den Arm um die Schultern.
Zwischen 1892 und 1954 kommen über 12 Millionen Immigranten über das Registrierungs Zentrum auf Ellis Island an. Annie Moore aus Cork ist die Erste von ihnen.
Hier die Fakten…
Die Fakten – das Geschah wirklich
Für die Emigration der Iren nach Amerika steht ein Name. Annie Moore. Als Erste wurde sie am 1.1.1892 im neu eröffneten Migrationszentrum auf Ellis Island in der Bucht von New York registriert.
Tage zuvor war die siebzehnjährige Annie zusammen mit ihren Brüdern, Anthony und Philip, in Queenstown (heute Cobh) auf der SS Nevada quer über den Atlantik geschippert.
Zu der Zeit lebten die Eltern der drei Geschwister bereits vier Jahre in New York. Genauer in den Slums der Lower East Side in Manhatten.
Ursprünglich stammte die Familie aus dem Norden des County Cork. Matthew, der Vater, aus Watergrasshill und Mutter Julia aus der Gemeinde Dromtarriffe.
Bis heute unklar ist, warum ausgerechnet Annie die Ehre zu teil kam, als Erste auf Ellis Island registriert zu werden. Die wahrscheinlichste Theorie ist diejenige, dass die US-Behörden eine englisch sprechende Person aus Nordeuropa den Slovaken, Italienern, Armeniern und Juden den Vorrang geben wollten.
Eine Junge Irin, welche mit viel Hoffnungen und zwei Brüdern im Schlepptau in New York landet, macht sich einfach besser auf der Titelseite der NY-Times.
Als Geschenk erhielt Annie eine Münze aus Gold. Nach eigenen Worten soll sie gesagt haben, dass sie das Geschenk für immer aufbewahren würde.
Es wird vermutet, dass der versoffene Vater das Goldstück am selben Tag zwecks Feier der Familienzusammenkunft in Alkohol umwandelte.
Langezeit wurde übrigens die falsche Person für Annie Moore gehalten. Es wurde angenommen, dass Annie ihren Weg nach Texas fand. Dort einen gut situierten Mann heiratete und mit ihm ein gut gehendes Hotel betrieb.
Doch der Traum des „American Way of Life“ einem Auswanderer Leben am Sonnenplatz wurde für die richtige Annie Moore nie war.
Stattdessen schaffte sie es nicht aus den New Yorker Slums heraus. Gebar von einem deutsch-amerikaner 11 Kinder, wovon sechs früh starben.
Das Leben war hart und entbehrlich. Mit so vielen Kindern in einem Apartment ohne Sanitäre-Anlagen zu Hausen ist definitiv kein Zuckerschlecken.
Hat jemand Zucker gesagt? Annies Schwiegervater, Simon Schayer, zeichnet sich für eine auch bei uns bekannte Leckerei bekannt.
Simon erfand die Makaronen und liess seine Erfindung patentieren.
Annie selbst ereilte der schnelle Tod bereits mit 50 Jahren. Herzattacke. Moore war gut im Futter und so musste die Feuerwehr den Leichnam der bedauernswerten Frau aus dem Fenster hinaushieven.
Die Treppen im Appartement waren schlicht zu eng.
Annie endete auf dem Calvary Friedhof in einem Gemeinschaftsgrab. Erst im Jahr 2008 erhielt sie einen Grabstein.
In meiner Geschichte habe ich viele Fakten eingestreut. Einen treuen Freund wie Brian aber gab es in der wahren Geschichte nicht.